Alle Beiträge von Thomas Müller

Warum neue Geschäftsmodelle und Technologien unzertrennlich sind

In jeder Vortragsreihe zu „Digitalisierung“ oder „Industrie 4.0“ werden fast schon gebetsmühlenartig erfolgreiche Plattformunternehmen wie Amazon, Google, Airbnb, Uber etc. als schillernde Beispiele für die Veränderungen der klassischen Consumer-Märkte aufgeführt.

Die Frage, inwiefern und vor allem wann diese Entwicklung auch für die Industrie relevant wird, lässt sich nicht eindeutig beantworten. In jedem Fall hat es in den letzten zwei Jahren zu vielschichtigem Aktionismus innerhalb vieler mittelständischer Unternehmen geführt und neue „Plattform Anbieter“ zum Beispiel wie Axoom , Tapio oder Adamos streben an, die eher traditionell agierende Maschinen- und Anlagenbaubranche zu revolutionieren.

Plattform Dimensionen

Wenn man sich intensiv mit dem Phänomen „Plattform“ auseinandersetzt, stellt man schnell fest, dass häufig immer noch zwei Dimensionen getrennt betrachtet werden: Die betriebswirtschaftliche Sicht auf mögliche, neue Erlöse aus Plattformen und auf der anderen Seite die Evaluierung der technischen Möglichkeiten und deren Implementierung in die Produkt-Entwicklung bzw. die Integration in die vorhandene Systemlandschaft.

Die Matrix in der folgenden Abbildung stellt dar, wie die Dimensionen Geschäftsmodelle und Technologie voneinander abhängig sind und welche Möglichkeiten sich in Abhängigkeit von der Unternehmens- bzw. Digitalisierungsstrategie dadurch eröffnen.

4 Dimensionen

Abbildung 1: Geschäftsmodell-Technologieportfolio (Quelle:  Braincourt)

In Ableitung aus dem „Geschäftsmodell-Technologieportfolio“ von Prof. Dr.-Ing. Jürgen Gausemeier lassen sich zwei Achsen und vier Felder wie folgt definieren: 

Die horizontale Achse „Geschäftsmodelle“ geht von den klassischen produktbezogenen Geschäftsmodellen aus. Die Basis bilden hier die sogenannten „Assets“ – also physische Produkte oder kundenspezifische Lösungen. Gerne wird dies auch als Kernkompetenz bezeichnet. Im weiteren Verlauf der Achse werden die Geschäftsmodelle durch Services und Dienste abgebildet, die durch Netzwerke auch völlig losgelöst von den „Assets“ am Markt platziert werden können.

In der vertikalen Achse „Technologien“ werden folgende Stufen dargestellt: In der klassischen Umgebung sind die Welten zwischen der „Business IT“ (zum Beispiel Administrations- und Geschäftsprozesse) und der „technischen IT“ (zum Beispiel Steuerungsentwicklung und Produktionssysteme) klar getrennt und nicht selten technologisch wie auch organisatorisch voneinander isoliert. Durch Industrie 4.0-Ansätze wachsen diese Systeme nach und nach zusammen und sollen die Unternehmensebenen miteinander vernetzen. Die höchste Entwicklungsstufe sind die Plattformtechnologien, in der alle System-, Geräte- und Umgebungsdaten komplett vernetzt und in Echtzeit vorgehalten werden können. Diese Technologien können auch als „Platform, Infrastructure und Software as a Service“ (PaaS/IaaS/SaaS) angeboten oder bezogen werden, sodass keine eigene Infrastruktur bereitgestellt werden muss.

Zwischen diesen beiden Achsen bilden sich nun folgende vier Felder:

1. Das Feld „klassisches Geschäft“ orientiert sich hinsichtlich IT, Organisation und Strategie an der Automatisierungspyramide. Das bekannte und etablierte Geschäftsmodell ist klar produkt- oder auch lösungsorientiert und wird durch Serviceleistungen flankiert. Zum Einsatz kommen die herkömmlichen Technologien – nicht selten auch in kaum mehr beherrschbaren Ausprägungen. Initiativen unter den Stichworten „Digitalisierung/Automatisierung“ beziehen sich in der Regel auf die Wertschöpfungsketten, Prozesse und Produkte.

2. Dem Feld „Dienstleistungsunternehmen“ können Unternehmen zugeordnet werden, deren Geschäftsmodelle schon über einen längeren Zeitraum hinweg mit bestehenden Technologien auf datengetriebene Dienstleistungen aufgebaut sind. Dementsprechend sind dort auch Kompetenzen im Umgang mit Daten vorhanden. Beispielhaft können hier Banken, Versicherungen oder auch IT-Dienstanbieter wie Datev genannt werden. Jedoch gehen manche Industriedienstleister wie zum Beispiel Bilfinger bereits in diese Richtung, um aus den Prozess- oder Instandhaltungsdaten Services zur Optimierung zu entwickeln und anzubieten.

3. „Plattformtechnologieprodukte“ sind Anbieter von Infrastruktur und Applikationen. Als Beispiele seien hier Microsoft Azure oder Amazon Webservices oder auch spezialisierte Rechenzentren genannt. Sie bieten in der Regel keine eigenen Services an, sondern die Funktionalitäten, um diese zu entwickeln und gegebenenfalls bereitzustellen. Meistens sind hier diverse Security-Lösungen mit integriert, um die Daten und Übertragungswege gegen Dritte abzusichern. Hier steht aktuell die Blockchain-Technologie jenseits von Bitcoins in der Evaluierung.

4. Als „Plattformunternehmen“ bezeichnen wir Unternehmen, deren Geschäftsmodelle auf daten- und kundengetriebenen Services unter Zuhilfenahme von IoT-Technologien basieren. Hier sind auch die eingangs erwähnten Beispiele wie Amazon & Co. zu verorten. Trends sind in der Automobilindustrie mit car2go und Moovel von Daimler erkennbar. Der Maschinen- und Anlagenbau möchte sich hier durch neu gegründete Unternehmen wie Tapio oder Adamos positionieren. Die Entwicklung geht eindeutig weg von der Wertschöpfung durch physische Assets hin zu Erlösen durch datenbasierte Dienste. In der Endausprägung entsteht hier ein Ökosystem aus Anbietern und Nachfragern. Der Plattformbetreiber wird dabei zum „Generalunternehmer“ zur Vermittlung von Diensten auch von Drittanbietern. Ein Beispiel hier ist das 365FarmNet, ursprünglich gegründet vom Landmaschinenhersteller Claas als Serviceplattform für Fahrzeuge – wo zwischenzeitlich unter anderem auch Düngemittel bestellt oder Versicherungsleistungen gebucht und abgewickelt werden können.

Welche strategischen Ansätze und Vorgehen können nun daraus abgeleitet werden?

Die zwei strategischen Ansätze

  1. Durch Wissen und Serviceorientierung zum Plattform-Unternehmen

Ein Ansatz ist, vom „klassischen Geschäft“ über das „Dienstleistungsunternehmen“ zum „Plattformunternehmen“ zu werden. Die Voraussetzungen sind zum Beispiel bei einem klassischen Maschinenbauer oder in der Fertigungsindustrie vorhanden. Hier dominiert ein service- und wissensorientiertes Vorgehen. Man hat über Jahre hinweg ein Spezialwissen aufgebaut welches für den Marktvorsprung essenziell ist. Wird dieses Wissen beispielsweise durch Data Analytics, Machine Learning und künstliche Intelligenz genutzt und angewandt, können enorme Potenziale gehoben werden.

Über Dienstleistungsunternehmen zum Plattformunternehmen

Abbildung 2: Über „Dienstleistungsunternehmen“ zum Plattformunternehmen (Quelle: Braincourt)

Hierbei steht ein methodisches Vorgehen im Vordergrund, das von der Problemstellung her und aus kundenzentrischer Sicht geprägt wird. Durch moderne Kreativitätstechniken aus dem sogenannten Lean-Startup Methodenkoffer wird das vorhandene Wissen gezielt in Ideen und Innovation transferiert. Man verfolgt einen stark prototypischen Ansatz, der die Ideen zunächst in minimal sichtbaren Dienstleistungs-Produktansätzen an den Kunden erprobt.  

 

Prototypen-Reifegrade zur Evaluierung und Weiterentwicklung von Ideen

Abbildung 3: Prototypen-Reifegrade zur Evaluierung und Weiterentwicklung von Ideen (Quelle: Braincourt)

2. Durch Technologie und Plattform-Produkte zum Plattform-Unternehmen

Einen anderen Weg beschreibt das technologieorientierte Vorgehen. Hierbei stehen klar die Technologien und Werkzeuge innerhalb vorhandener Plattform-Produkte im Vordergrund. Hierzu müssen „klassische Unternehmen“ primär Kompetenzen zur Beherrschung aktueller IoT-Technologien aufbauen. Dadurch wird die Grundlage geschaffen mit Datenströmen aus verschiedenen Quellen (Systemen, Sensorik, Steuerungen etc.) operieren zu können, sichere Übertragungswege und eine vertrauenswürdige Speicherung zu gewährleisten.

Über Plattform-Technologie Produkte zum Plattformunternehmen

Abbildung 4: Über „Plattform-Technologie Produkte“ zum Plattformunternehmen (Quelle: Braincourt)

Mit diesen Daten kann dann unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Tools gearbeitet werden, um Muster und Zusammenhänge zu erkennen, Verhalten zu simulieren oder Analysen zu erstellen, die schlussendlich in Algorithmen automatisiert werden. Produkte wie beispielsweise das „Machine Learning Studio“ von Microsoft Azure unterstützen ohne dezidierte Programmierkenntnisse den Aufbau einer künstlichen Intelligenz. Mit dem Produkt „IoT Central“ lassen sich Daten rasch visualisieren oder Performance-Dashboards aufbauen, um mittelfristig aus diesen Informationen lernen zu können. Erste Schritte in der Daten-Visualisierung und Analyse können also durch vorkonfigurierte Werkzeuge von Plattformtechnologie-Anbietern ohne große Spezialisierung umgesetzt werden (siehe Abbildung 2). Hieraus können auch für Kunden Produkte wie Cockpits oder Analysetools entstehen, die zur Generierung von Wissen für den Kunden wie auch für den Hersteller genutzt werden können.

Bei dieser Herangehensweise folgen die Ideen den Erkenntnissen aus den Daten, um daraus neue Dienste oder Services zu generieren.

Web-basierte Analyse und Visualisierung von Sensordaten mit Microsoft Azure IoT Central

Abbildung 5: Web-basierte Analyse und Visualisierung von Sensordaten mit Microsoft Azure IoT Central (Quelle: Braincourt)

Dienstleistung oder Technologie – das ist hier die Frage?

Wie im wahren Leben gibt es für die Liebe kein Erfolgsrezept – auch nicht, wenn die Beziehung anstatt zwischen zwei Menschen, hier zwischen Technologie und Geschäftsmodell eingegangen wird. Unternehmen müssen den für sich geeignetsten Weg gehen, um sich als Plattformunternehmen zu etablieren.

Wie so oft ist es meist ratsam alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, denn die Königsklasse in der digitalen Transformation bilden die Unternehmen, welche sowohl den technologiebasierten Ansatz als auch die Herangehensweise über Wissen und Ideen beherrschen. Diese Unternehmen werden am schnellsten in der Lage sein, erfolgreiche Geschäftsmodelle als Plattformunternehmen umzusetzen und können dadurch eine marktbeherrschende Stellung einnehmen.

Zudem werden diese Unternehmen in der Lage sein, Geschäftsmodelle anderer oder die Erfolgsserie einer bereits bestehenden Technologie, eines bestehenden Produkts oder einer bestehenden Dienstleistung zu ersetzen oder diese vollständig vom Markt zu verdrängen. Das wird ihnen gelingen, in dem sie durch den Technologievorsprung Netzwerkeffekte mit Partnern schnell nutzen und in das Plattform-Geschäftsmodell integrieren.  

Für beide Herangehensweisen gilt jedoch, dass es kaum möglich sein wird auf direktem Weg vom klassischen Geschäft zum Plattformunternehmen zu gelangen. Der Zwischenschritt über Technologieprodukte oder über Dienstleistungs-Unternehmen ist in dem Evolutionspfad unabdingbar.

Industrie 4.0 – Reifegradermittlung und Benchmarking

Die bislang publizierten Reifegradmodelle in Bezug auf Industrie 4.0 sind in der Regel entweder eher strategisch, organisatorisch oder technologisch ausgerichtet. Da „Industrie 4.0“ jedoch einen interdisziplinären Veränderungsprozess auslöst ist es von entscheidender Bedeutung, alle Dimensionen des Unternehmens und deren Geschäftsmodell-Architektur hinsichtlich Digitalisierungsumfang zu erfassen und zu analysieren.

In der Praxis hat sich hierzu eine Betrachtung von 12 Dimensionen bewährt, die unterschiedliche Kategorien beinhalten. Die Dimensionen erfassen die Reifegrade hinsichtlich „Smart Factory“, „Innovation Management“, „Manufacturing“, „Produkte und Produktivität“, „Lifecyle Management“, „Ökosysteme“, „Strategie“, „Kunden und Märkte“, „Organisation“, „Roadmap“, „Menschen und Ressourcen“ sowie „datenbasierte Services.“

Positionsbestimmung und internes Benchmarking

Innerhalb der Kategorien wird durch einen themenbasierten Fragenkatalog der jeweilige Reifegrad ermittelt und die verschiedenen Unternehmensbereiche (Fachdisziplinen, Standorte, Tochtergesellschaften etc.) können mit einem Benchmarking-System miteinander verglichen werden. Dadurch entsteht ein einheitliches Gesamtbild und Handlungsfelder können präzise bestimmt werden.

Die Reifegradstufen werden anhand folgender Merkmale definiert:

Newcomer:
Der Newcomer zeichnet sich vor Allem durch eine fehlende, unternehmensweite Strategie und ein fehlendes Führungssystem aus. Einzelne, unabhängige Insel-Projekte sind gestartet, Knowhow und Kompetenzen sind vereinzelt vorhanden, werden aber nicht ganzheitlich gesteuert und genutzt.

Advanced:
Teilbereiche des Unternehmens befassen sich mit gezielten Projekten und stimmen sich untereinander ab. Eine Strategie mit Vision/Mission-Statement wird erarbeitet, man sammelt Erfahrungen mit den neuen Möglichkeiten, jedoch ohne das bestehende Geschäftsmodell zu gefährden. Gezieltes Innovationsmanagement und kultureller Wandel finden noch nicht statt.

Expert:
Eine übergreifende Strategie ist definiert und über ein Projektportfolio operationalisiert. Innerhalb der Organisationsstruktur haben sich crossfunktionale Teams herausgebildet um die notwendigen Entwicklungen voranzutreiben. Neue Führungssysteme werden etabliert um als Promotor für den Wandel zu sorgen und das bestehende Geschäftsmodell soll um neue Bereiche erweitert werden.

Unternehmen, die diese Stufe erreicht haben, sind auf dem besten Weg bei den veränderten Marktgegebenheiten, der künftigen Arbeitswelt und den technologischen Möglichkeiten Schritt zu halten.

Simple Scored Modell (Bildquelle: Braincourt)

 

Die „Königsklasse“ bei der Etablierung von Veränderungen im Rahmen der „digitalen Transformation“ bilden die nächsten beiden Stufen:

Pioneer:
Innerhalb der Organisation wird der Wandel durch aktive Technologieforschung gesteuert. Durch die Anwendung von agilen Methoden und kreativitätsfördernden Techniken werden in enger Zusammenarbeit mit den Kunden neue Szenarien und Produktlösungen entwickelt. Das Unternehmen betritt bewusst und geplant Neuland, um sich von Mitbewerbern im internationalen Umfeld abzuheben.

Champion:
Die vollständige Digitalisierung aller Prozesse, Produkte und Dienstleistungen ist abgeschlossen, die Mitarbeiter werden in ihrem täglichen Arbeiten bestmöglich durch Technologie und künstliche Intelligenz unterstützt. Neue Geschäfts- und Betreibermodelle werden ausgebildet und ein kontinuierlicher Innovationsprozess ist innerhalb der Unternehmens- und Führungsstrukturen kulturell etabliert.

Durch eine genaue Verortung innerhalb dieses Reifegradmodells wird ein solides Fundament in Bezug auf einen durchgängigen, sinnvollen Digitalisierungsansatz gelegt. Eine „digitale Reife“ muss nicht zwingend in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit digitaler Systeme oder einem hohen Vernetzungsgrad stehen. Auch eher „altmodische“ Methoden wie „Lean Management“ oder KVP-Ansätze sind für erfolgreiche Digitalisierungsstrategien wertvolle und wichtige Begleiter.

Gezielte Einführung von „Lean Startup“ Methoden

Ein ganz wesentlicher Punkt dieses Modells, der sonst kaum ausreichend Berücksichtigung findet, ist die Ausprägung und Einführung von „Lean Startup“ Methoden und eine Erfassung der Fähigkeit zu einem kulturellen Wandel hinsichtlich Veränderungsmanagement und Führung. Dies muss nicht gleich die ganze Organisation von heute auf morgen auf den Kopf stellen – jedoch sollten interdisziplinäre Ansätze in verschiedenen Bereichen sicht- und messbar sein, da Innovationsfähigkeit abseits der bisherigen Kernkompetenzen die Basis für den Einstieg in einen weitreichenden digitalen Wandel bildet. Und das betrifft eben nicht nur Software- und Produktentwicklung sondern die komplette Unternehmensstruktur.  

Um innerhalb der gesamten Unternehmensstruktur den Reifegrad der zu schaffenden Vorrausetzungen zu messen, ist ein ganzheitliches Modell für Strategie, Technologie und Organisation das geeignete Instrument.