Der Bezug auf das 3-D-Modell des Produktes ist im Kontext des Digitalen Zwillings das vorherrschende Beispiel. Darauf aufbauend dann Anwendungen der virtuellen oder erweiterten Realität für Instandhaltung und Service. Dabei liegen, wie bei einem Eisberg, 90 % der Daten und Prozesse, die einen Digitalen Zwilling repräsentieren, häufig nicht im Blick der Beteiligten. Wie sieht also eine ganzheitliche Perspektive über Wertschöpfungsstufen und Systemgrenzen hinweg aus?
Entgegen dem Eisberg ist eine typische Eigenschaft des Digitalen Zwillings, dass er mit zunehmendem Alter – in unserem Fall Lebenszyklus – immer umfangreicher wird und durch neue Daten an „Masse“ gewinnt. Die Historie der Daten macht ihn immer wertvoller und ist letztlich die Voraussetzung für neue digitale Anwendungen und Geschäftsmodelle. Die versprochenen Wettbewerbsvorteile und Effizienzgewinne einer Smart Factory werden ohne ein integriertes Management des Digitalen Zwillings nicht zu erreichen sein.
Gefangen im Silo der Systeme
Betrachtet man stark vereinfacht Design -> Make -> Service als Wertschöpfungsstufen, so stehen auf jeder Stufe entsprechende IT-Systeme bereit. Im Bereich Design die CAD/PLM-Systeme, im Make ein ERP und MES sowie im Service die Instandhaltungssysteme. Entlang dieser Kette werden eigene Datenmodelle und Instanzen von Digitalen Zwillingen in den IT-Systemen erzeugt. Trotz aller Bemühungen um offene Standards dominieren viele herstellerspezifische Formate und Varianten, so dass, insbesondere beim Übergang von einer Stufe auf die andere, viele Daten verloren gehen oder manuelle Datenpflege betrieben wird. Diese Art der IT-technischen Verschwendung galt als unvermeidlich. Da auch organisatorisch Grenzen übersprungen werden, fühlte sich jede Abteilung in ihren Grenzen ganz komfortabel. Viele gut gemeinte Digitalisierungsprojekte fügen jetzt mit Cloud- und IoT-Systemen eine schnell wachsende Schatten-IT hinzu, die die Vielfalt inkompatibler Digitaler Zwillinge schnell unübersehbar werden lässt.
Die Rolle im Produktionssystem 4.0
Produktionssysteme wurden über viele Jahre nach Lean-Prinzipien optimiert und funktionieren weitgehend ohne Digitalen Zwilling. Der Fokus lag auf dem ununterbrochenen, getakteten, verschwendungsfreien Produkt- und Materialfluss. Papier (z.B. der Laufzettel) ist dabei immer noch der Träger aller wesentlichen Informationen, auch wenn punktuell beispielsweise CNC-Systeme unterstützen. Die typischen Tätigkeiten in der Arbeitsvorbereitung, Produktion und Service wie das Aufbereiten der Auftragsdaten, das Ausdrucken und Verteilen der Auftragsdokumente, das Erfassen von Daten in IT-Systeme – all dies sind typische Vorgänge, die nicht wertschöpfend sind.
Das Produktionssystem 4.0 ist durch die Fähigkeit gekennzeichnet, dem Kunden trotz schwankenden Bedarfs individuelle Produkte mit minimaler Durchlaufzeit bereitzustellen. Takt und Band verlieren an Bedeutung und werden durch flexible und modulare Produktionsmodule ersetzt. Typische Designmerkmale eines Produktionssystems 4.0 sind:
- Durchlaufzeit „Same Day“ für alle Produkte
- Rüstzeit „Null“
- Flexible Produktionsmodule auf denen „jedes“ Produkt gefertigt werden kann
- Papierlose Produktion
- Keine ungeplanten Stillstände und Störungen
Diese extremen Prinzipien zeigen den Weg auf, um die Effizienzgewinne der Zukunft erreichen zu können. Wertschöpfungssteigerungen von 30 bis 50 % der Gesamtleistung werden in diversen Studien als Potenzial ausgewiesen. Diese Ziele werden aber nur erreicht, wenn der Digitale Zwilling ein integraler Bestandteil und Kern des Produktionssystems 4.0 by Design ist. Er ist der wesentliche Schlüssel der Optimierung und des Effizienzgewinns.
Welche Design-Prinzipien gelten für den Digitalen Zwilling, um diese Ziele zu erreichen?
- Es braucht einen Digitalen Zwilling für das Produkt.
- Es braucht einen Digitalen Zwilling für die Produktionsanlage.
- Es braucht ein kompatibles Datenformat zwischen Anlagen- und Produktmodell, welches den Produktionsprozess digital abbilden kann (Thing-Core-Model).
- Stammdaten, egal ob produkt- oder anlagenspezifisch, müssen standardisiert, zentral gepflegt werden bzw. synchronisiert werden.
- Über alle Wertschöpfungsstufen ist der Digitale Zwilling wiederzuverwenden (ReUse) und mit Daten anzureichern (Add) – Add- & ReUse-Prinzip.
- Digitale Zwillinge müssen über Grenzen des Unternehmens hinaus, das heißt zwischen Herstellern, Betreibern und Servicepartnern im Netzwerk, über ein offenes Thing-Modell austauschbar und erweiterbar sein.
Werden diese Prinzipien des integrierten Digitalen Zwillings als zentrales Designelement in der Unternehmensarchitektur angewendet, können alle Prozesse entlang der Wertschöpfung verschwendungsfrei aufgebaut werden. Daten, die einmal erstellt wurden, stehen nachfolgenden Schritten zur Verfügung und können für Prozesse und Applikationen genutzt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein konsequentes, interdisziplinäres Prozess- und Stammdatenmanagement in der Organisation als Kultur zu entwickeln.
Abbildung 1: Digitaler Zwilling Add- und ReUse-Prinzip über den Wertschöpfungsprozess (Quelle: Trebing+Himstedt)
Wertschöpfung ohne Verschwendung
Sind die Grundregeln des Umgangs mit dem Digitalen Zwilling verstanden, erschließen sich zahlreiche Potenziale, um die Verschwendung auf nahe Null zu reduzieren.
Beispiel papierlose Produktion und elektronische Werkerführung. Bei der automatisierten oder manuellen Montage benötigt es neben der Stückliste immer eine spezifische Arbeits- beziehungsweise Prüfanweisung. Heute werden die Anweisungen pro Produktvariante manuell in einem Editor erstellt, ausgedruckt oder als PDF am Terminal bereitgestellt. Alle Daten liegen in der Regel aber bereits elektronisch vor und können nur nicht automatisiert zusammengeführt werden. Nutzt man die Idee des Digitalen Zwillings, werden die Konstruktionsdaten (z.B. PLM) mit den ERP-Daten integriert und das MES wird der Nutzer der Daten für die Arbeitsanweisungen, zum Beispiel für die schrittgenaue Darstellung mit 3-D-Modell und Animation.
Zusätzlich werden für Werkzeuge oder Prüfstände Maschinenparameter benötigt. Diese können am Digitalen Zwilling des Produktes im ERP gepflegt werden, ans MES weitergeleitet und dann auf Basis offener Standards wie OPC UA technisch in Echtzeit an die Maschine übertragen werden. Auch hier entfällt die doppelte Datenpflege und Verteilung.
Abbildung 2: Der Digitale Zwilling wird im MES angereichert – as-built, Beispiel SAP ME (Quelle: Trebing+Himstedt)
Ein Beispiel aus dem Bereich Instandhaltung ist der häufig genannte Anwendungsfall visueller Wartungsanweisungen mit Hilfe von Augmented Reality. Hier erhält der Instandhalter, sobald das Bauteil mit einem QR- Code identifiziert ist, Informationen zu Zustand und Wartung eingeblendet.
Nutzt man auch hier das entlang des Lebenszyklus angereicherte Datenset des Digitalen Zwillings, kann man das 3-D Modell und die Strukturinformationen aus der Geburtsphase des Objektes (CAD, PLM) (As-Designed), dann aus dem ERP und MES die Stücklisten und Komponenteninformationen (As-Built) und zum Schluss die Wartungshistorie (As-Maintained) sowie die Betriebsdaten (z.B. IoT-Real-Time-Performance-Daten) heranziehen. Alles basierend auf dem Thing-Core-Modell, über Systemgrenzen hinweg und nach dem Add- & ReUse-Prinzip für den Digitalen Zwilling. Dieser Anwendungsfall zeigt, dass der Nutzen am Ende der Wertschöpfung immer größer wird. Kann man aber nicht auf einen integrierten Prozess zurückgreifen, wird der Aufwand für die Einführung eines solchen Prozesses immer höher. In diesem Anwendungsfall wird auch die Notwendigkeit von unternehmensübergreifenden Asset-Netzwerken deutlich, da der Digitale Zwilling die Unternehmensgrenze des Herstellers verlassen hat und der Betreiber die Daten nutzen möchte. Ist dieser Austausch nicht möglich, müsste der Betreiber das gleiche Modell nochmals aufwendig erstellen und pflegen, ohne dass insgesamt ein Mehrwert entsteht.
Abbildung 3: Der Digitale Zwilling im Asset-Netzwerk – Beispiel SAP AIN (Quelle: Trebing+Himstedt)
Diese beiden Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt von Anwendungsfällen, die den Digitalen Zwilling benötigen. Die smarte Fabrik gelingt nur mit dem Management des Digitalen Zwillings in seiner Vielfalt über den gesamten Lebenszyklus hinweg. Der Weg über viele kleine schlanke IT-Systeme lässt das Maß der Verschwendung nur anwachsen und führt zur Inflexibilität. Leider scheint die Vielfalt der Apps und die versprochene schnelle Einführung vielen Akteure sehr verlockend. Aber an einem integrierten, leistungsstarken Backend (Digital Core) kommt kein Unternehmen vorbei. Auf diesem Backend aufbauend kann die Welt der Apps durchaus leicht und produktiv genutzt werden. Spätestens bei datengetriebenen Geschäftsmodellen, die eine nutzungsorientierte Vergütung (Pay-per-use) anstreben, ist der Digitale Zwilling eine zwingende Voraussetzung.