Das absolut perfekte Supply Chain Management (SCM) existiert bislang allenfalls als Traum. Einer Studie der Münchener Beratungsgesellschaft Emporias (Stand: November 2017) zufolge, klagt jeder zweite Manager aus der Industrie über Störungen und Fehler in der Lieferkette. Die Probleme ziehen sich dabei entlang der gesamten Supply Chain, finden sich in der Beschaffung ebenso wie im Transport oder der Auftragsabwicklung.
Mit Hilfe smarter, digital gesteuerter Logistik lassen sich viele dieser Probleme unzweifelhaft lösen. Dennoch bleiben Unwägbarkeiten, wie Rogelio Oliva und Noel Watson, Professoren der Harvard Business School (HBS), in einer umfangreichen Studie herausgearbeitet haben.
Die These der beiden Harvard-Professoren: das SCM berücksichtigt bislang viel zu wenig den Einfluss der Beteiligten auf den Ablauf der Supply Chains. Wenn die „Lieferkette hinkt“ und es zu Störungen und Fehlern in der Supply Chain kommt, sei das fast immer auf Dynamiken zurückzuführen, die letztlich durch den Faktor Mensch in der Lieferkette ausgelöst wurden, zumal selbst erfahrene Logistikmanager nicht durchweg rational handeln. Menschen sind fehlbar und stellen eben deswegen den größten Unsicherheitsfaktor in der Logistik dar. Supply Chain Manager, die dies anerkennen und bei ihrer täglichen Arbeit berücksichtigen, können die Effizienz ihrer Lieferketten klar verbessern.
Wer den Faktor Mensch berücksichtigt, stärkt die Leistungsfähigkeit von Supply Chains
Lieferketten weisen eine hohe Komplexität auf und sie zu steuern, bedeutet, viele Variablen (Lagerführung, Bestellungen, Transportmittel, etc.) gleichzeitig miteinander zu koordinieren. Hinzu kommt, dass dabei zumeist viele verschiedene Organisationen unter einen Hut zu bringen sind − oft sogar über Zeitzonen, Länder- und Sprachgrenzen hinweg.
Um diese Komplexität besser fassen zu können, unterscheiden Olivia und Watson zwischen strategischen und operativen Aktivitäten. Zu den strategischen Aktivitäten gehören u.a. die langfristige Kapazitätsplanung und die Netzwerkkonfiguration von Lagern, Distributoren und Einzelhandelsgeschäften. Beispiele für operative Aktivitäten sind die kurzfristige Bedarfsplanung (einschließlich Prognose- und Bestandsverwaltung), Produktion und Logistik.
Die von Olivia und Watson untersuchten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema SCM gehen überwiegend von einem optimierenden Ansatz aus. Sprich: Die Mehrheit der Studien unterstellt, es gäbe ausschließlich „völlig rationale Entscheidungsträger“. Was in der Theorie durchaus sinnvoll ist, erweist sich spätestens in der Praxis als unzureichend. Selbst erfahrene Logistikmanager handeln schließlich nicht immer rational. Das ist jedoch kein Fehler im System, sondern schlicht eine weitere Variable mit der zu rechnen ist.
Menschen neigen zu Vereinfachungen
In der Realität agieren Manager nicht als völlig rational Handelnde. Es gilt, anzuerkennen wie Menschen mit Komplexität umgehen. Die Strategie dafür ist Vereinfachung: Komplexität minimieren, Problemräume einengen, die Zahl der Variablen senken. Entsprechend neigen auch Supply Chain Manager dazu, Entscheidungen so zu treffen, dass sie schon den Input der Daten möglichst gering halten. Zudem verwenden sie vereinfachende Lösungsansätze („Shortcuts“), um zu Entscheidungen zu kommen. So schaffen sie es zwar, das hochkomplexe Koordinierungssystem Supply Chain zu steuern, die Ergebnisse ihrer Entscheidungen sind jedoch oft nur „suboptimal“ – und damit die Ursache für Unwirtschaftlichkeiten von Lieferketten.
Menschen stellen stets Prognosen an, was zu Verzerrungen führt
Olivia und Watson verwenden für dieses Phänomen den in den Wirtschaftswissenschaften gängigen Begriff Bias. Gemeint sind damit Verzerrungen oder Verfälschungen, die durch falsche Annahmen entstehen. Olivia und Watson deuten den Begriff aber auch im alltagssprachlichen Sinn.
Das englische Wort „bias“ kann im Deutschen auch mit „Neigung“, “ Vorliebe“ oder „Voreingenommenheit“ übersetzt werden. Persönliche, individuelle „Neigungen“ oder „Vorlieben“ beeinflussen Entscheidungen und Prognosen, die Menschen darüber anstellen, wie andere Menschen sich verhalten werden. Wer beispielsweise dazu neigt, Konflikten aus dem Weg zu gehen, wird Partner über mögliche Probleme eher spät (oder sogar gar nicht) informieren.
Die „Bias“, die jeder einzelne Beteiligte dadurch in die Lieferkette einbringt, beeinflusst daher auch die Effizienz der Supply Chain im Gesamten. Denn jede Prognose löst ihrerseits weitere Prognosen darüber aus, wie andere Beteiligte der Supply Chain sich verhalten werden. Doch damit ist längst noch nicht der gesamte Rahmen an möglichen Verhaltensdynamiken innerhalb einer Supply Chain beschrieben. Jedes SCM muss ein System wählen, mit dessen Hilfe die Beteiligten einander koordinieren. Dieses wird in der Regel so gewählt, dass es zwar Verzerrungen berücksichtigt, allerdings auch zugleich versucht, diese zu kompensieren. Auf diese Kompensierungsversuche stellen sich wiederum alle Bete iligten ein. Jedes Koordinierungssystem löst daher auch selbst neue Verhaltensdynamiken aus, die ebenfalls beeinflussen, zu welchen Lösungswegen die Beteiligten tendieren, um Entscheidungen zu treffen.
Beispiel Bullwhip-Effekt
Diese mehrfach ineinander verschachtelten Verhaltensdynamiken erklären nicht nur das Zustandekommen von Fehlern und Störungen innerhalb von Supply Chains, sie sind auch der Schlüssel zur Beseitigung der daraus erwachsenden Ineffizienz solcher Systeme. Ein Beispiel dieser Ineffizienz ist etwa der Bullwhip-Effekt.
Bezeichnet wird damit das Phänomen, bei dem bereits eine gering veränderte Endkundennachfrage ausreicht (= auslösende Verhaltensdynamik), um Bestellmengen und Lagerbestände in der nachfolgenden Lieferkette zu großen Schwankungen aufzupeitschen (= nachfolgende Verhaltensdynamik). Bildlich gesprochen, füttert sich das System gewissermaßen selbst. Vermeiden lässt sich der Effekt am ehesten dann, wenn die ihm zugrunde liegende Verhaltensdynamik frühzeitig erkannt wird.
Mit anderen Worten: wer lernen will, besser mit dem menschlichen Faktor im SCM umzugehen, muss lernen, sich und sein Tun selbst beständig zu hinterfragen. Die Hilfe Dritter, eine Art Supervision, sollte dabei willkommen sein. Schließlich erkennen wir Menschen die Fehler anderer meist leicht. Die eigenen Fehler dagegen übersehen wir nur zu gern.
Die Digitalisierung allein kann diese Probleme nicht lösen
Eine weitere wichtige Erkenntnis der Studie ist, dass sich der (Fehler verursachende) Faktor Mensch im SCM durch die Digitalisierung nicht auflösen wird. Da der Mensch trotz aller IT-Lösungen und Optimierungsalgorithmen aus der Supply Chain nicht vollständig verschwinden wird, werden die oben beschriebenen Verhaltensdynamiken auch erhalten bleiben. Wer sie in sein SCM miteinbezieht und lernt, sie frühzeitig zu erkennen, um gegensteuern zu können, verschafft sich letztlich damit Wettbewerbsvorteile.