Für Politiker und Journalisten scheint es wenig zu geben, was Digitalisierung nicht ist. Es wird von Revolution gesprochen und davon, dass man sich nicht abhängen lassen darf. Als Land, als Firma und als Einzelperson. Ich möchte die Gelegenheit dieses Artikels nutzen und ein paar generelle Erfahrungen in diesem Umfeld teilen. Sozusagen ein kurzer Bericht von der Front.
Evolution statt Revolution
Generell möchte ich festhalten, dass die „Digitalisierung“ nichts ist, was plötzlich und unerwartet an unsere Tür geklopft hat. Es gab und gibt keine Hand Gottes, die die Digitalisierung auf die Erde entlässt und aus dem Off zu uns spricht: Nun gehet hin und machet wie euch befohlen. Sondern wir haben ein technologisches Umfeld, das sich ständig weiterentwickelt. Aus Karteikarten wird ein ERP-System. Aus zwei Info-Terminals im Lager werden hundert. Aus physisch ausgedruckten Komissionieranweisungen werden Push-Nachrichten auf dem Handheld. Aus einem einfachen Einlagerungsalgorithmus wird künstliche Intelligenz, die heute schon weiß, dass ein Kunde in drei Wochen einen Artikel bestellen wird, bevor er das selbst weiß. Aber das ist alles bei Licht betrachtet keine Revolution, sondern lediglich ein konsequentes Weiterdenken des Bestehenden, flankiert von fortschreitender Technologie, insbesondere Prozessorgeschwindigkeit, die all das erst möglich macht. Ein Ende dieser kontinuierlichen (Weiter-)Entwicklung ist derzeit nicht in Sicht.
Die Tatsache, dass Digitalisierung meiner Meinung nach eher Evolution als Revolution ist, erfordert aber trotzdem Maßnahmen. In Kundenprojekten zeigt sich sehr häufig, dass ein bestimmter Einstieg in die Evolution der Digitalisierung ganz besonders vielversprechend, aber vielleicht gar nicht so offensichtlich ist: Nämlich die Konzentration auf den Nutzer. Es geht also gar nicht als Erstes um die Cloud, KI oder das Verbauen von hunderten Sensoren in Maschinen, sondern einfach mal als erstes um die Menschen, die in diesem Umfeld arbeiten. Und im Rahmen dieser Nutzerzentrierung lassen sich zwei Hauptgebiete identifizieren: Die User, die möglichst effizient ihr Tagesgeschäft machen wollen; im Lager, an der Stanzmaschine oder im Büro. Und als Zweites die User, die sich Prozesse ausdenken und umsetzen.
Potentiale der jungen Generation nutzen
Betrachten wir die erste Gruppe der ganz normalen Maschinenbediener, Komissionierer und Vorarbeiter. Wenn diese Menschen morgens das Werkstor passieren und ihr iPhone im Spint verstauen, verstauen sie auch den einfachen Zugang zu Informationen und die einfache und intuitive Bedienung von Apps gleich mit. Warum muten wir solchen Leuten eine SAP-Maske zu, bei der sie für eine Bestandskorrektur viel länger brauchen als für die Aufnahme eines Videos oder die Recherche eines Wikipedia-Artikels? Warum verweigern wir ihnen aktuelle Informationen zum Auftragsfortschritt und zum Zustand ihrer Firma? Warum muten wir jungen Leuten zu, dass sie zum Weiterscrollen einer Liste tausend mal pro Tag die Maus in die Hand nehmen müssen, wenn sie seit ihrer jüngsten Kindheit das ganz anders kennen. Das ganze Potenzial an Effizienz und Eigenantrieb kommt zum Erliegen. Wer das zulässt, braucht meine Erachtens mit KI und Sensoren gar nicht erst anzufangen.
Nun zur nächsten Gruppe: Diejenigen, die sich diese Prozesse ausdenken. Es dürfte allen klar sein, dass ein klassisches Wasserfalldenken schon vor Jahren ausgedient hat. Sich hinsetzen und erst einmal alle fragen, alle mitdiskutieren lassen und dann im Rahmen eines politisch korrekten Minimalkonsenses in einer endlos langen Phase der Umsetzung etwas bauen, was bei Fertigstellung schon wieder veraltet ist. Das ist das genaue Gegenteil von dem, auf was junge High Potentials Lust haben. Hippe Startups in Berlin werden aber ihre Anziehungskraft verlieren, wenn der Mittelständler aus Pforzheim eine Arbeitsumgebung schafft, die das Prädikat „innovativ“ wirklich verdient. Sich Dinge ausdenken, prototypisch ausprobieren und im Erfolgsfall verfeinern. Das ist es, was die jungen Leute reizt und mir ist in unseren Kundenprojekten noch nie jemand begegnet, der aus einem funktionieren Prototyp mit den richtigen Tools und Methoden nicht tiefe, persönliche Genugtuung gezogen hätte.
Fazit
Zusammenfassend möchte ich an dieser Stelle nochmal auf die Idee der echten Nutzerzentrierung hinweisen: Für diejenigen, die im Tagesgeschäft die Arbeit machen genauso wie für die, deren Aufgabe die Prozessgestaltung ist. Unter dieser Prämisse verliert das Gespenst der Digitalisierung seinen Schrecken und ermöglicht einen relativ entspannten Einstieg, vorausgesetzt natürlich der Wille ist vorhanden. So kann Digitalisierung in der Praxis funktionieren.