Lange Zeit wurde der Chemielogistik wenig Bedeutung zugemessen, nun aber rückt sie seit einigen Jahren stärker in den Managementfokus. Dies zeigt auch der neue Logistikhotspot auf der diesjährigen ACHEMA. Wurden Logistikkosten, -aufwände und Themen rund um Liefertreue und -service eher marginal betrachtet, wachsen Kostendruck und Erwartungen an die Logistik heute zusehends, so dass das Handlungsfeld immer intensiver bearbeitet wird und Projekte wie Digitalisierung, Automatisierung und Supply-Chain-Optimierung nun verstärkt angegangen werden. Die Logistikperformance wird zunehmend auch als Treiber der Unternehmensperformance wahrgenommen[1].
Dabei zeigt sich aufgrund der Heterogenität der Produkte eine ebenso große Breite an Herausforderungen und Lösungen: Verschiedene Produkte erfordern verschiedene Supply Chains. Nirgends sonst gibt es so spezifische Herausforderungen wie in der Chemieindustrie: Bulk und Liquids sind neben Gefahrstoffen die kennzeichnenden Charakteristika für die Besonderheiten einer Wertschöpfungskette in der Chemie. Und diese erfordern individuelle Antworten. Bei spezialisierten produzierenden Unternehmen reicht das an Herausforderung bereits aus – gerade große Chemiekonzerne jedoch erreichen mit ihren unterschiedlichen Produkten schnell große Komplexität und müssen unterschiedliche Supply Chains unterhalten und spezifisch optimieren.
Vor dem Hintergrund der Globalisierung führen Kapazitätssteigerungen und steigende Nachfrage dazu, dass immer mehr neue Produktionsstätten errichtet werden – vor allem in den USA und in Asien ist dies in den letzten Jahren deutlich zu sehen. Gleiches gilt für die gerade in letzter Zeit zu beobachtenden Mergers und Acquisitions in der Chemieindustrie. Dies begründet nicht nur komplexere Anforderungen an Logistik und Supply Chain, sondern auch schlicht mengenmäßige Herausforderungen, die es zu lösen gilt.
Mit der Komplexität der Supply Chain steigt auch das Risiko innerhalb der Supply Chain. Welche Auswirkungen Produktionsausfälle, Naturkatastrophen oder politische Unsicherheiten haben können, ist oftmals unüberschaubar. Gerade vor dem Hintergrund der Globalisierung und der längeren, verzweigteren Transportwege und Beschaffungsszenarien steigt auch hier das Risiko, was direkte Auswirkungen auf höhere Supply-Chain-Sicherheitsanforderungen und Vorbeugungsmaßnahmen hat. Das bedeutet, dass hier nicht nur der Blick auf die innere zu gewährleistende Sicherheit zu werfen ist, sondern auch besonders externe Faktoren zu berücksichtigen sind. Supply Chain Risk Management ist zwar noch eine relativ junge Disziplin, hier wird aber zukünftig gerade in global agierenden Unternehmen ein wichtiger Schwerpunkt liegen.
Auch das Thema Digitalisierung mit Schlagworten wie ‚Internet of Things‘ ist in aller Munde; im Bereich Produktion hat die Chemieindustrie hier eine Vorreiterrolle. Gerade Global Player sind bestrebt, entsprechende Techniken auch auf die Logistik zu übertragen. Dies erfordert große Investitionen und Umstellungen, sowohl bei den produzierenden als auch bei den transportierenden Unternehmen. Mangelnde globale Standards verkomplizieren dieses Digitalisierungsvorhaben, trotzdem ist das Ziel die vollständige „Supply Chain Visibility“ – am liebsten real time.
In der operativen Logistik wird diese Entwicklung durch stärkere Automatisierung ergänzt. Ist der Automatisierungsgrad in der Produktion von chemischen Produkten naturgemäß schon sehr hoch, zeigt sich zur Zeit die Tendenz dazu auch immer mehr in der Logistik – beginnend mit der automatischen Abfüllung, der verstärkten Nutzung von automatischen Hochregallagern bis hin zum vollautomatischen Transport. Auf ersten Werksgeländen sind bereits vollkommen fahrerlose Systeme (AGVs) implementiert oder in der Erprobung. In den kommenden Jahren wird dies weiterhin zunehmen, verstärkt durch autonomes Fahren auch außerhalb des Werksgeländes.
Die hier vorgestellten Entwicklungen zeigen, dass die Chemielogistik zunehmend wichtiger wird. Teilweise austauschbare oder substituierbare Produkte unterschiedlicher Hersteller bei gleichem Preisniveau führen dazu, dass weiche Faktoren wie Service oder Lieferfähigkeit an Bedeutung gewinnen – wer aus dem Privatleben Lieferzeiten von 24 Stunden kennt, kann Lieferzeiten von 8 und mehr Wochen nicht unbedingt nachvollziehen. Dies sind Faktoren, die gerade bei steigendem Wettbewerb immer mehr zu ausschlaggebenden Gründen für die Entscheidung für oder gegen einen Supplier sprechen – und diese Themen sind fest mit der Logistik assoziiert.
Zumindest in Europa rückt auch der ‚Faktor Mensch‘ seit einiger Zeit in den Mittelpunkt: Der Mangel an Fachkräften kommt auch – und verstärkt – in der chemischen Industrie an. Was andere Branchen wie Handel und Einzelhandel bereits verstärkt bemerken, nämlich die zunehmende Knappheit bei LKW-Fahrern, wird auch die chemische Industrie treffen. Da aufgrund höherer Anforderungen (Gefahrgut) bis jetzt auch höhere Vergütungen gezahlt werden, ist dieses Problem noch nicht allgegenwärtig, die Tendenz ist aber bereits zu erkennen. Gleichzeitig zeigt sich auch beginnend in der Produktion bereits die Herausforderung des demographischen Wandels. Insbesondere schwere körperliche Arbeit sowie unangenehme Arbeiten, die durchaus auch in der Logistik erledigt werden müssen, verstärken diese Herausforderung zusätzlich. Hier haben Vorreiter bereits erste Maßnahmen getroffen und umgesetzt, dies wird in den kommenden Jahren noch weiter in den Fokus rücken.
Alles in allem liegen immer noch große Potenziale in der Chemielogistik. Sicherheit, Kundenanforderungen und Kosten sind hier die größten Treiber. Gerade die Top Global Player sind bereits dabei, die dargestellten Herausforderungen proaktiv anzugehen und Lösungen zu erproben und umzusetzen. Diese Anforderungen werden aber auch – schon allein aus Wettbewerbsgründen – von mittleren und großen Firmen umgesetzt werden müssen. In der Miebach Chemielogistik-Studie geben mehr als die Hälfte der Unternehmen an, sich mit Strategieprojekten in der Supply Chain zu befassen, mit besonderem Augenmerk auf Kostensenkung und Serviceverbesserung. Auch im Bereich Operational Excellence gibt es verstärkt Projekte zur Optimierung.
Viele Gründe also, die dazu führen, dass die Logistik in der chemischen Industrie mehr Beachtung findet.
[1] Vgl. Miebach Chemielogistik-Studie „Logistik-Performance als Treiber der Unternehmens-Performance?“, Miebach Consulting 2016.