KI – Der digitale Tsunami trifft traditionelle Unternehmen

Interview: Heike Henzmann Fotos: Holger Jacob
Vom Bahnhof zum Bundeshaus: Bei schönstem Wetter quer durch Bern mit Daniel Neuhaus, Geschäftsführer von Sqooba, einem Start-up im Bereich Big Data und Kybernetik.
Herr Neuhaus, Sie haben mit Sqooba ein Start-up im Bereich Big Data, Kybernetik und künstliche Intelligenz gegründet. Wie ist Ihr persönlicher Bezug zu dem Thema?
Ich habe ursprünglich Betriebswirtschaft studiert und bin seit etwa zwanzig Jahren im Umfeld von Data Analytics tätig. Während dieser Zeit war ich an der Gründung von verschiedenen Start-ups beteiligt und als Berater für einige grosse Beraterfirmen, wie beispielsweise CSC, unterwegs. Anschliessend war ich für Telekommunikations-Unternehmen im Bereich Datenanalyse tätig, zunächst bei Orange Telecommunications und dann bei Swisscom. Am prägendsten war wohl der Aufbau des Analytics Service Center bei der Swisscom, das ich geleitet habe, worauf ich sehr stolz bin. Wir sind 2008 mit einem Team von zwanzig Leuten gestartet, als ich 2016 von dort wegging, zählten wir 180 Mitarbeiter. Insgesamt wagten vier ehemalige Swisscom-Mitarbeiter mit mir gemeinsam den Wechsel zu Sqooba. In dem Start-up haben viele Experten zusammengefunden, die sich bereits in namhaften Unternehmen mit Datenanalyse beschäftigt haben, wie beispielsweise meine Mitgründer, Benoit Perroud, CTO, der von Verisign kommt, und Theus Hossmann, CDO, der an der ETH und an der University of Cambridge im Bereich Machine Learning promoviert hat.

Ist Sqooba vom Konzept her ebenfalls eine Art Analytics Service Center?
Sqooba ist auf der einen Seite ein Dienstleistungsunternehmen, aber wir entwickeln darüber hinaus eine eigene Plattform. Diese Plattform, die auf Open Source basiert und unter anderem Maschinenlernkomponenten enthält, können Unternehmen nutzen, um ihre Daten zu analysieren.

«Wir erleben derzeit einen Digitalisie­rungs-Tsunami. Alles was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert.»

Wie sieht das Unternehmenskonzept von Sqooba aus?
Wir erleben derzeit einen Digitalisie­rungs-Tsunami. Alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. Bei diesem Tsunami gibt es zwei Seiten. Auf der einen Seite befinden sich Digital Natives wie Google, Amazon und Uber. Auf der anderen Seite stehen die traditionellen Unternehmen. Wenn der Tsunami auf ein traditionelles Unternehmen auftrifft, gibt es Stress. Ein Beispiel: Die Swisscom machte vor einigen Jahren noch 1 Milliarde Franken Umsatz mit SMS. Dann taucht eine 20-Mann-«Bude» auf und zerstört dieses Geschäft. Wir unterstützen die traditionellen Unternehmen bei der Digitalisierung, also dabei, zunehmend datengetrieben zu funktionieren. Unser Angebot umfasst drei Komponenten. Die erste Komponente, Compass, ist ein reines Dienstleistungsangebot im Bereich der Unternehmens­transformation. Zusammen mit den Experten im Unternehmen überlegen wir, was es konkret für das Unternehmen bedeutet, datengetrieben zu sein. Hierbei müssen alle Aspekte der Unternehmens­organisation miteinbezogen werden. Wir führen dazu Design Thinking Workshops und Facilitation Trainings durch. Wenn man fertig «ausgebeinlet» hat, kommt die nächste Komponente, der Diver. Bei Diver heisst es «hands on». Unsere Data Scientists arbeiten in den Unter­nehmen mit den Daten und generieren hierbei bereits einen Mehrwert für das Unternehmen. Es geht darum, Hypothesen mit Proto­typen zu verifizieren: der Fail-fast-Gedanke. Unsere dritte Komponente, Ocean, umfasst die Datenana­lyse-Platt­form, mit der wir Unter­nehmen befähigen, ihre Daten in Echtzeit zu prozessieren und zu analysieren.

Datenanalyse ist eine Sache, Rückschlüsse daraus zu ziehen und neue Geschäftsmodelle zu finden, eine andere. Auch ein Teil Ihres Angebotes?
Für neue Geschäftsmodelle braucht man die Domain-Expertise. Die haben wir nicht in jeder Branche. Die Domain-­Expertise bringt der Kunde mit. Wir verfügen über die technische Expertise, mit der wir den Kunden bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle unterstützen.

Die Data Labs spriessen derzeit aus dem Boden. Wie schafft man es, sich abzuheben von der Konkurrenz?
Der Big Data Space ist laut, es gibt viel Aktivität. Wir versuchen, uns durch unsere Mitarbeiter abzuheben, die alle aus namhaften Unternehmen kommen und an grossen Big-Data-Vorhaben mitgewirkt haben. Unser Background, unsere Erfahrung, das differenziert uns von den anderen. Deshalb werden wir auch häufig von grossen Unter­nehmen kontaktiert.

Das heisst, Ihre Auftragslage ist bereits ein Jahr nach der Firmengründung gut?
Die Auftragslage ist gut. Doch wir mussten erkennen: Die meisten traditionellen Unternehmen backen bezüglich Big Data noch sehr kleine Brötchen. Einige trauen sich jedoch bereits, ihr Unternehmen voll­ständig umzukrempeln. Wir zählen beispielsweise einen grossen Konzern zu unseren Kunden, der sich gerade mitten in der Transformation befindet. Bei dieser Transformation geht es unter anderem um die Umsetzung einer neuartigen Variante des Kernproduktes in ein kleines Gerät. In den Prototypen des Geräts, die in der Testphase sind, sind Sensoren untergebracht, die Aufschluss über den Gebrauch und die Vorteile des neuen Produkts liefern sollen. Es wird auf Hochtouren daran gearbeitet. Sqooba unterstützt das Unternehmen bei der Umsetzung durch die Analyse der Daten, unter anderem auch dieser Sensor-Daten.

«Der Big Data Space ist laut, es gibt viel Aktivität.»

Welchen Herausforderungen sieht man sich bei solchen Projekten gegenüber?
Alles, was digitalisiert werden kann, wird zukünftig digitalisiert werden. Deshalb ist es wichtig, alle Arten von Daten verarbeiten zu können: Bilddaten, Text­daten, IOT-Daten von Maschinen, einfach alle Arten von Daten. Das können wir. Wir haben alle Skills und die richtigen Tools dafür. Bei der Frage, was man nun mit diesen Daten macht, sind die Unternehmen gefordert. Die Unternehmen müssen erkennen, wo ein Mehrwert generiert werden kann. Die traditionellen Unter­nehmen brauchen häufig viel Zeit, die richtigen Use Cases zu entwickeln.

Fällt Ihnen eine Killer-Applikation aus der Industrie ein?
Nein. Im Allgemeinen mangelt es in Unternehmen der industriellen Produktion bereits an den Daten. In vorauseilendem Gehorsam wurden zwar Maschinen mit Sensoren ausgerüstet oder techno­lo­gie­getriebene Projekte initiiert, aber die Erkenntnisse, die daraus gezogen werden können, sind bescheiden. Aber damit dies gelingen kann, muss man sich als Unternehmen erst überlegen, was man überhaupt zu welchem Zweck wo messen will. Eine solche Analyse ist etwas sehr Exploratives, keine Magie. Man muss sich herantasten.

Kann man das Thema Datenanalyse getrennt vom Thema künstliche Intelligenz betrachten?
Es herrscht viel zu viel Lärm um künstliche Intelligenz. Die künstlichen Intelligenzen, ich spreche lieber von Assistenten, lernen über die Masse an Daten. Deshalb bleibt auch bei der Verwendung von künstlicher Intelligenz die Kernfrage immer die Frage nach den Daten. Welche Daten habe ich? Habe ich genügend Varianz in den Daten? Genügen meine Daten, um die Assistenten zu trainieren?

Mit welchen Zielen werden diese Agenten in der Industrie trainiert?
Eine denkbare Zielvorgabe wäre es, den Ausschuss in Produktionsbetrieben zu minimieren. Sind die Hypothesen einmal definiert, baut man Modelle und verarbeitet die Daten dazu. Doch dieser Prozess ist viel aufwendiger, als einfach digital Angebot und Nachfrage zu ver­binden, wie das in den Digital-­Natives-Unternehmen der Fall ist.

Welche Branchen transformieren sich am schnellsten?
Das sind sicher die Telekommunikationsbranche und die Medienbranche. Hier wird die Digitalisierung am stärksten erhöht. Und wo die Digitalisierung am stärksten erhöht wird, da ist auch das grösste Potenzial. Bei Versicherungsunter­nehmen hingegen wird häufig immer noch mit Papier gearbeitet. Dort finden wir einen sehr geringen Digitalisierungsgrad. Auch im Gesundheitswesen funktioniert die Digitalisierung zur zögerlich. Zwar liegen dort viele Daten vor, doch sie werden nicht verwendet. Denn sobald es um Patientendaten geht, ist man sehr vorsichtig. Kleine Unternehmen haben generell eine eher grosse Hemmschwelle bei der Verwendung von Personendaten. Die grossen Unternehmen hingegen lassen sich ihre Nutzungs-Bestimmungen bestätigen und arbeiten anschliessend mit den Daten. Da sind wir wieder bei den Unterschieden zwischen den beiden Seiten des Tsunami, Digital Natives versus traditionelle Unternehmen. Man ist versucht, Muster und Erkenntnisse auf die andere Seite zu projizieren. Doch das funktioniert nicht.

Inwieweit tangieren Sie aktuelle Änderungen in den EU-Datenschutz­-Regularien bei Ihren Projekten?
Das ist ein komplexes Thema. Die Schweiz hat klare Definitionen, wie sie mit besonders schützenswerten Daten, mit Personen-Daten beispielsweise, umgehen muss. Diese Daten dürfen die Schweiz nicht verlassen. Die EU geht noch weiter, insbesondere im Bereich der schützenswerten Personendaten. Wir sind dabei, uns einen Überblick zu verschaffen über die neue General Data Protection Regulation der EU. Was bedeuten diese für Europa, für die Schweiz, für Sqooba? Was heisst das für Cloud-Anbieter generell? Macht es Sinn, dass Unternehmen ihre Daten den Quasi-­Monopolisten wie Google, Amazon und Mircrosoft anvertrauen? Wie kann sich Sqooba in dem Umfeld mit einem Angebot posi­tionieren? Wenn man davon ausgeht, dass Daten ein Asset sind, warum geben Unternehmen diese dann heraus?

Wird Ihre Datenanalyse-Plattform Ocean mit einer gewissen Branchen-Intelligenz, also mit Domain-Wissen, ausgestattet?
Stellen wir uns folgende Situation vor. Wir haben vier Unternehmen, die ungefähr das Gleiche machen. Firma A ist innova­tiver als die drei anderen. Sie lässt einen Data Scientist ihre Daten analysieren und ist anschliessend in der Lage, einen Assistenten zu bauen, zum Beispiel für vorbeugende Instandhaltung. Diesen Assistenten kann ich nun auch in den Unternehmen B, C und D verwenden und mit deren Daten trainieren. Aber ich muss ihn neu trainieren, denn die Daten sind zwar ähnlich, aber doch anders. Also ja, man kann Assistenten replizieren und übertragen. Aber so weit sind wir noch nicht. Das ist Stufe vier. Im Moment befinden sich die meisten Unternehmen noch auf der untersten Stufe.

«Wenn man mit Informationen arbeitet, dann kommt man an Kybernetik nicht vorbei.»

Welche Rolle spielt Kybernetik bei der digitalen Transformation?
Kybernetik ist ja das Steuern und Regu­lieren von komplexen Systemen auf Basis von Kommunikation und Information. Was Kybernetiker vor 50, 60 Jahren angedacht haben, ist heute aufgrund von vorhandener Information und Technologie umsetz­bar. Wenn man mit Informationen arbeitet, dann kommt man an Kybernetik nicht vorbei. Wir analysieren und wollen anschliessend rückkoppeln und steuern.

Können kybernetische Prinzipien menschliche Entscheidungen im Unternehmen beeinflussen beziehungsweise verbessern?
Um die Frage zu beantworten, muss man sich vergegenwärtigen, wie in Unter­nehmen heute Entscheidungen getroffen werden. Menschen, die schon lange in einer Branche oder einem Unternehmen tätig sind, entwickeln mitunter ein gutes Bauchgefühl für Entscheide. Dieses Bauchgefühl ist schlussendlich nichts anderes als eine Mustererkennung, die sich der Entscheider über die Jahre antrainiert hat. Das Bauchgefühl ist schwer zu schlagen. Das Problem ist heute, dass Zyklen immer kürzer werden und häufig die Zeit fehlt, sich das für Entscheide notwendige Bauchgefühl anzutrainieren. Hier setzen Decision-Support- oder Augmented-Intelligence-Systeme an, die das Management bei Entscheiden unterstützen. Entscheider können mit diesem System ihr Bauchgefühl verifizieren in einem Umfeld, das immer dynamischer wird. Data Driven Decision-Support-­Systeme sind ein wesentlicher Teil der digitalen Transformation. Doch man darf nicht denken, dass künftig ein Roboter in einem Raum sitzt und Entscheidungen trifft. Das System unterstützt vielmehr den Entscheider. Dieser kann auf sein Bauchgefühl hören, dieses aber neu ganz objektiv aufgrund der Datenlage überprüfen. Die jüngere Manager-Generation ist bereits stark datengetrieben und tut sich mit dem Einsatz solcher Systeme in der Regel leichter. Einige der kybernetischen Prinzipien sind bereits in moderne Arbeitsweisen eingeflochten und vertraut.

Kann man Menschen kybernetisch steuern und regeln wie eine Maschine?
Unter Allende hat man versucht, Chile nach kybernetischen Gesichtspunkten zu organisieren beziehungsweise zu steuern. Damals hat aber die Technologie gefehlt. Diese hat man heute. Die ganze Palette, von Überwachungsstaat bis gut informierte Demokratie, ist möglich.

Woher nimmt man Daten, die auf der einen Seite benötigt werden, die man aber nicht selber sammeln kann?
Das ist ein wichtiger Punkt. Benötigte Daten sind zum Teil noch nicht erschlossen. Intelligente Strassenlaternen zum Beispiel. Wie werden die «intelligent»? Man steckt einen Sensor hinein. Dazu braucht man aber zunächst Freigaben von Behörden und so weiter. Es dauert vielleicht drei Jahre, bis die Strassenlampen mit Sensoren ausgestattet sind. Nun benötigt man zusätzlich für eine sinnvolle Analyse und Steuerung die Bewegungsprofile der Bevölkerung und fragt bei Google an. Google rückt die Daten aber nicht raus, denn die Daten sind deren eigenes Asset, das sie selber nutzen wollen.

Kann man Google & Co. die Daten nicht einfach abkaufen?
Damit Google oder ein anderes Digital-Native-Unternehmen seine Personen­daten verwenden darf, müssen seine Nutzer ihr Einverständnis geben. Das ist aber nicht immer einfach und häufig vom Zweck abhängig. Wenn es ein Zweck zum Nutzen für die allgemeine Öffentlichkeit ist, weniger Staus beispielsweise, dann bin ich als Kunde bereit, meine Daten beizutragen. Aber wenn eine Bank ihr Bankomaten-Netz optimieren will, dann sind schon viel weniger Kunden dazu bereit. Das ist also wieder eine Fragedes Anwendungszwecks. Auch innerhalb eines Unternehmens ist es nicht selten schwierig, an benötigte Daten zu kommen. In den meisten Unternehmen stecken die Daten in Silos. Möchte man nun ganzheitlich die Daten analysieren, stellt man schnell fest, dass man gar nicht an die Daten herankommt. Ein erster, wichtiger Schritt der Transformation ist es also, die Daten im gesamten Unternehmen zu erschliessen und zu demokratisieren. Ist das erst einmal geschehen, dann entsteht fast so etwas wie Magie, und es ist ein grosser Mehrwert erreicht. Denn erst dann weiss das Unternehmen, wo es bezüglich seiner Daten steht und kann den nächsten Schritt in Angriff nehmen. Man muss Daten nicht einsperren, sondern freilassen.

Auf welche Zeit dürfen wir uns einstellen, bis sich der überwiegende Teil der Schweizer Industrie-Unternehmen in der Transformation befindet?
Wenn man sich dranhält, dann ist ein Zeithorizont von zehn Jahren realistisch. Wir sind letztes Jahr bei der Gründung mit viel Energie gestartet. Schnell haben wir gemerkt, dass die digitale Transformation nur sehr zäh vorangeht. Das liegt jedoch eher an der produzierenden Industrie als Branche und weniger an der Nation.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Neuhaus.