KI – Es geht weniger um Intelligenz als um das Lösen komplexer Probleme mit dem Computer

Welche Bedürfnisse haben Industrie-Firmen, und wie können diese sinnvoll mit KI gedeckt werden? Ein Gespräch mit Dr. Thilo Stadelmann, Dozent für Information Engineering und Leiter des Datalab an der ZHAW.
Eugen Albisser – Herr Dr. Thilo Stadelmann, woran forschen Sie gerade?
Ich forsche vor allem an Ansätzen für das Machine Learning, das heisst, wie kann eine Maschine selber lernen, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen? Konkret forschen wir an Methoden der neuronalen Netze. Derzeit arbeiten wir beispielsweise mit einem Unternehmen zusammen, das Maschinen für die Herstellung medizinischer Implantate baut. Für die Qualitäts-Kontrolle der Produkte waren bisher Menschen zuständig. Der Mensch wird aber irgendwann müde und unkonzen­triert. Deshalb entwickeln wir nun eine Maschine, welche die Produkte qualitativ überprüfen kann. Die Maschine schaut sich die Produkte automatisch mithilfe von Kameras an und entscheidet selbstständig, ob die Ware in Ordnung ist — oder ob etwas von der Norm abweicht und deshalb vom Mensch manuell überprüft werden muss.

Sie haben mitgeholfen, das ZHAW Datalab aufzubauen, und leiten es heute: Wozu dient dieses Labor?
Das Datalab ist ein Netzwerk von Fachleuten innerhalb der ZHAW, also quasi eine Plattform für die Instituts-übergreifende Zusammenarbeit. Diese Fachleute betrachten das Thema Daten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Um zwei Pole zu nennen: Zum einen gibt es die Informatiker, zum anderen die Datenrechtsspezialisten. Im Datalab bringen wir die unterschiedlichen fachlichen Exper­tisen zusammen, um gemeinsam und interdisziplinär an Forschungsprojekten im Bereich Data Science zu arbeiten.

Was fasziniert Sie an der künstlichen Intelligenz?
Allein der Begriff ist schon faszinierend! Intelligenz ist etwas Grosses, und ihre künstliche Erschaffung weckt Emotionen. Wenn man sich dann wie ich im Detail mit der KI beschäftigt, dann merkt man: Es geht eigentlich gar nicht so sehr um Intelligenz, sondern vielmehr darum, komplexe Probleme mit dem Computer zu lösen. Die komplexen Probleme sind aber auch die Spannendsten: Etwa Prozesse automatisieren, für die es bisher menschliche Wahrnehmungsfähigkeiten brauchte. Dem Computer so etwas beizubringen, genau das fasziniert mich heute an KI.

Wie würden Sie KI definieren?
«Complex Computer Applications»: Nüchtern betrachtet geht es darum, rationale Agenden zu schaffen, also einem Computer bzw. einer Software zielführendes Verhalten beizubringen, um ein komplexes Problem zu lösen. Künstliche Intelligenz klingt aber als Begriff sexy und ist deshalb derzeit so verbreitet.

Kann KI der Industrie — zum Beispiel in der Automatisierung — noch eine vollkommen neue Dimension dazugeben?
Fundamental Neues ist naturgemäss schwer vorauszusagen. KI hat schon immer dabei geholfen, Aufgaben zu automati­sieren, die typischerweise ein Mensch gut kann. Das sind meistens wahrnehmungsbasierte Aufgaben wie Hören und Sehen. Schon vor 60 Jahren hat man in den USA versucht, Russisch automatisch in Englisch zu übersetzen — mit mässigem Erfolg. Auch im Jahr 2000 sind solche Sprachprojekte noch gescheitert. Und was sehen wir heute? Auf einmal funktioniert es! Im Bereich Machine Learning sehen wir seit ungefähr drei Jahren, dass sehr viele Wahrnehmungsaufgaben ungefähr auf menschliches Niveau zu bringen sind. Das eröffnet neue Möglichkeiten. Vor ein paar Jahren haben wir noch überlegt: Soll ich etwas von einem Menschen oder einem Roboter montieren lassen? Ich musste dem Roboter jeden einzelnen Schritt einprogrammieren. Mit den heutigen Methoden aus dem Machine Learning ist die Chance gross, dass sich so ein Roboter die Aufgabe selber beibringen kann — beispielsweise durch Ausprobieren.

Was ist heute bereits möglich? Welche Anwendungen sind bereits vorhanden, auf welche die Industrie zugreifen kann?
Auf Wahrnehmung basierende Anwendungen sind schon weit ausgreift. Es ist aber auch heute noch nicht so, dass ich als Industrie-Unternehmen eine ganze Anwendung einfach von der Stange kaufen kann. Aber es gibt immer mehr Firmen, die sagen: Ja, wir können euch das bauen. Und in der Regel kann man in Monaten rechnen: Solche Entwicklungen dauern heute weniger als zwei Jahre.

Haben Sie auch Anfragen aus der Industrie, die Sie ablehnen müssen, weil die Forschung gar noch nicht so weit ist?
Es gibt Anfragen, die ich aus Zeit­gründen leider ablehnen muss. Bei den meisten Anfragen kann ich ehrlich sagen: Das würden wir hinkriegen. Aber wir können nicht alles annehmen. Beispiel selbst fahrende Autos: Es ist heute machbar, aus einem normalen Auto ein selbst Fahrendes zu machen, aber es würde unseren Rahmen sprengen. Riesige Projekte dieser Art können wir als einzelne Hochschule unmöglich alleine stemmen. Es gibt Projekte, die sind einfach zu gross.

Momentan scheint man sich uneinig zu sein, in welche Richtung die KI gehen kann und welche Gefahr dies für die Menschheit bedeuten könnte. Wie ordnen Sie die Diskussion ein?
Ich habe gerade mit Studierenden ausführlich darüber diskutiert. Es sind im Grunde zwei Diskussionen. Zum einen: Welche Bedürfnisse haben Unternehmen in der Industrie, und wie können diese sinnvoll mit KI gedeckt werden? Kurz: Wo macht KI Sinn? Zum anderen: Könnte aus solchen Maschinen etwas werden, was uns am Ende entgleitet, weil wir es ja mit selbst lernenden Systemen zu tun haben? Das ist viel Science-Fiction. Gefährlich — wenn man das so ausdrücken will — ist meines Erachtens der Skalen-­Effekt: Wenn wir Automatisierung mittels Software vorantreiben, dann steht die Lösung in der Regel nicht nur für eine Anwendung, sondern könnte flächendeckend eingesetzt werden. Wenn eine Firma ihre Produktivität um 50 Prozent steigert, ist das schön für das Unternehmen. Wenn aber der gesamte Planet seine Produk­tivität von heute auf morgen signifikant steigert, stellt uns das auch vor Probleme. Die Gefahren von KI haben also aus meiner Sicht einen ähnlichen Stellenwert wie bei der Digitalisierung generell. Wir haben es immer sofort mit einer globalen Skala zu tun, und die haben wir nicht immer unter Kontrolle.

Welche persönliche Arbeit würden Sie gerne an einen Roboter mit KI delegieren?
Administrative Dinge wie Reportings, Statistiken, Anträge und so weiter. Das würde ich sehr gerne abgeben. Dazu würde vermutlich schon ein Softbot aus­reichen, dafür braucht es keinen Roboter mit Arm.

Können Sie etwas zu Reinforcement Learning sagen?
Innerhalb der KI nimmt Machine Learning eine sehr wichtigen Rolle ein. Machine Learing wiederum zerfällt in drei grosse Bereiche. Supervised Learning: Ich füttere die Maschine mit Verfahrens­-Beispielen (Input und Output), und sie lernt dann die Funktionen. Unsupervised Learning: Ich gebe der Maschine nur die Daten, und die Maschine lernt, was die Daten ausmacht. Das ist ähnlich, wie der Mensch lernt. Wir schauen uns um und lernen so etwas über die Welt. Reinfor­cement Learning bedeutet: Lernen zu steuern. Das ist quasi die höchste Form von Lernen. Die Maschine lernt also nicht nur einen Input auf einen Output zu mappen. Sie muss lernen, Sequenzen von Aktionen auszuführen, die irgendwann, vielleicht aber auch erst weit in der Zukunft, zum Erfolg führen. Die Maschine lernt also, etwas voraus­schauend zu steuern.

Wie stark ist eigentlich die schwei­zerische KI-Forschung?
In der Schweiz hatte man in den 2000er-Jahren Angst davor, sich den Begriff KI auf die Fahne zu schreiben. Betrachtet man die weltweite KI-­Forschung, findet man unter diesem Stichwort wenig aus der Schweiz. Aber andererseits passiert viel. Teilweise aber unter anderem Label anstatt unter KI. Beispielsweise indus­trielle Bildverarbeitung: Da steckt ganz viel KI drin. Bilder erkennen, das ist Machine Learning. Es gibt auch KI-Lehrstühle, die nicht in der Informatik, sondern im Maschinenbau oder in der Elektrotechnik angesiedelt sind — aber nicht unter dem Label KI laufen. Man muss also differenzieren: Es läuft sehr viel in der Schweiz, aber es ist nicht immer unter dem Label KI sichtbar. Und wir Forschenden sind ja meist auch etwas konservativer und springen nicht gleich auf jeden Hype auf. Gleichzeitig haben wir aber auch Leuchttürme wie zum Beispiel Jürgen Schmidhuber im Tessin. Er ist einer der Pioniere weltweit im Deep Learning.

Und verglichen mit dem Ausland: Behalten wir da den Anschluss?
Ja. Wir müssen uns definitiv nicht vor dem Ausland verstecken.

Wo liegen die Stärken in Ihrem Institut, Ihren Forschungsgebieten?
Wir fokussieren im Bereich der KI aktuell sehr stark auf die Methodik der Deep Neural Networks. Ich halte aber selber nicht viel davon, sich nur auf eine Methodik zu fokussieren. Uns geht es eigentlich darum zu lernen, wie Maschinen lernen können — also wie automatisches Lernen funktioniert am Beispiel von unter­schiedlichen Usecases. Unsere Stärke ist es, konkrete Probleme von und mit Unternehmen zu lösen. So schaffen wir eine welt­weit einzigartige Lösung, die gleichzeitig neue Forschung induziert. Und bei der ganzheitlichen Lösung solcher Probleme hilft uns wiederum das Datalab als interdisziplinäre Plattform.

Welche Studienrichtung — an der ZHAW oder auch an anderen Hochschulen —schlagen Sie demjenigen vor, der sich ausschliesslich mit KI befassen möchte?
Da KI als Disziplin ein Sub-Gebiet der Informatik ist, schadet ein Informatikstudium nicht. Die richtig spannenden Geschichten passieren aber noch nicht auf Bachelor-Stufe. Wer sich intensiver mit KI beschäftigen möchte, muss danach weiterstudieren. Ich würde dafür ein Master-Studium mit Vertiefung KI empfehlen – gerne an der ZHAW School of Engineering.

Wird es in den nächsten Jahren neue Ausbildungsrichtungen geben, die sich verstärkt mit KI befassen? Wenn ja, welche sind das?
Ja, das wird es. Diese werden aber unter dem Begriff Data Science laufen. Wir sind derzeit dabei, das in verschiedenen Studien­angeboten einzubringen. Wir waren ausserdem mit die Ersten in Europa, die auch konkrete Weiterbildungsan­gebote in Data Science einführten. Dabei sind Grundlagen des maschinellen Lernens ein ganz wesent­licher Bestandteil.

Wenn wir in zehn Jahren noch über KI schreiben, was denken Sie, werden dann die Themen sein?
Wir werden uns weiterhin darüber Gedanken machen, welche Probleme der Zukunft jetzt schon gelöst werden können. Es werden wieder andere sein. Die Diskussionen, ob uns die selbst lernenden Maschinen entgleiten, werden immer noch präsent sein, aber immer noch ein Zukunftsthema. Wir werden aber vermutlich weiter sein bei der Frage: Was macht KI mit uns als Gesellschaft, und wie wollen wir damit umgehen? Es werden neue Ideen da sein.

Unter Ihren Projekten ist auch DeepScore, ein digitales Notenpult mit musikalischem Ver­ständnis durch Active-Sheet-Technologie. Was genau ist das, und kann die Industrie irgendwann von den Resultaten profitieren?
Konkret geht es darum, Scans von Noten umzuwandeln in für Maschinen lesbare Noten. Für gedruckten Text in lateinischen Buchstaben gibt es das bereits. Die Fertigungs-Industrie hat meistens wenig zu tun mit Musik, aber sie kann trotzdem vom Projekt profitieren. Das Problem, das wir hier angehen, ist eigentlich Buchstabenerkennung mit einer zusätzlichen Dimension: Musik-­Noten sind ja eine zweidimensionale Sequenz von Zeichen. Die Notenköpfe sind nicht nur wie Buchstaben nach­ein­ander im Takt, sondern auch übereinander. Die Technologie, die wir jetzt bauen, wird die Erste sein, die es möglich macht, beliebig Symbolschriften zu erkennen. So ein System könnte also auch mathematische Formen lesen lernen. Und je mehr Roboter mit Menschen zusammen­arbeiten, desto wichtiger wird es, dass die Roboter über hoch ent­wickelte Wahrnehmungsfähigkeiten verfügen. Die Deepscore-Technologie ist ein weiterer Schritt in diese Richtung.

zhaw.ch